Alternative Zeiten in der kulturellen Bildung
06. Dezember 2022
von Laura Zachmann
Kulturelle Bildung soll inkludieren, soll Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen teilhaben lassen. Doch was, wenn «die Kunst» einmal mehr ausgrenzt statt einschliesst? Oder wenn wir dem Anpassungsdruck unterliegen? Dann hilft die «crip time» weiter.
Im September 2022 trafen sich die Kulturagent.innen im Rahmen einer Reflexionswerkstatt mit Manuela Runge, Theaterpädagogin am Schauspielhaus Zürich und DanceAbility Trainerin und Nora Tosconi, Regisseurin im Theater Hora und Spielerin im Schalktheater. In Erprobungen und im Gespräch haben wir gemeinsam über die Chancen und Herausforderungen von Inklusion in der kulturellen Bildung nachgedacht. Der folgende Text ist im Nachgang einer Reflexionswerkstatt und unter Zutun aller Kulturagent.innen entstanden. Initiiert und verantwortet wurde die Reflexionwerkstatt vom Kulturagenten Mariano Gaich.
«Inklusion» und «Partizipation» sind gerade im Bereich der kulturellen Bildung zwei viel und gern gesehene Labels. Nicht zuletzt auch, weil sie den Zugang zu zusätzlichen Geldtöpfen gewähren. Die Erwartungen an inklusive Projektanlagen sind hoch, doch gleichzeitig auch sehr widersprüchlich. Sollen sie zum einen endlich die kulturelle Teilhabe aller ermöglichen, sind sie zum anderen den normativen Erwartungen von allen Beteiligten ausgeliefert. So verwandeln Zeit- und Präsentationsdruck, gepaart mit Ansprüchen an Autor.innenschaft, partizipativ angelegte Projekte in letzter Minute in diktatorische Manöver. Dies mit dem Ziel, das Flüchtige, teils Unsichtbare und auch Unproduktive einer kollektiven Prozessarbeit irgendwie verdau- und verkaufbar zu machen.
«So gleiten wir hinein in Normen wie in Kleidungsstücke, ziehen sie uns über, weil sie bereitliegen für uns, weil sie uns übergestülpt werden, weil sie sich anpassen oder weil wir, unbemerkt, uns anpassen.» Carolin Emcke
Die Kraft der Normierungen und die damit einhergehenden Erwartungshaltungen erfahren wir Kulturagent.innen tagtäglich in unserer Arbeit an Schulen. Die Schule als ein normiertes und normierendes System, das per se Ein- und Ausschlüsse produziert und Leistung und Erfolg fokussiert, fordert partizipative Projekte im besonderen Masse heraus. Und das Spannungsverhältnis zwischen Produkt und Prozess scheint unauflösbar. Manuela Runge bestätigt diese Beobachtung auch in der Zusammenarbeit mit Menschen mit einer Behinderung. Wobei doch gerade die Offenheit für alle Fähigkeiten und Bedürfnisse das eigentliche Herzstück der Inklusion ausmachen würde. So scheinen also partizipative und inklusive Projekte an der gleichen Krankheit zu leiden: Den normierten Vorstellungen von Kunst, von richtigem Theater und einem schönen Produkt zum Abschluss einer Projektlaufzeit. Um diesen Normierungszwang besser zu verstehen, braucht es nicht nur den üblichen Blick zu Bourdieu, sondern auch einen kritischen Blick in die Geschichte von Inklusion.
Caroline-Sophie Pilling zeigt in ihrem Buch «Gehörlose und Hörende. Raummodellierung im Kontext von Behinderung und Interkulturalität» (transcript 2022) auf, woher die Bestrebungen kommen, Menschen mit Behinderungen inkludieren zu wollen. Ein auch heute noch prägendes Verständnis ist die medizinische Sichtweise, welche eine Behinderung als ein Defizit versteht, das es auszugleichen und an das Normale anzupassen gilt. Erst 1980 unterschied die WHO (chronische) Krankheiten und Behinderung voneinander. Bis dahin wurde Behinderung als Krankheit klassifiziert, die es zu lindern, heilen und überwinden gilt. Erst 2008 mit der verabschiedeten Konvention, Inklusion als Menschenrecht für Menschen mit Behinderung zu verstehen und eine Zugangspolitik zu stärken, änderte sich die Stossrichtung entscheidend. Behinderung wird nun als etwas verstanden, das mit einer sozialen Benachteiligung einhergeht und ein soziales Konstrukt ist, das gesellschaftliche Barrieren schafft, die von einer Mehrheitsgesellschaft gemacht werden. Folglich bilden aktive Partizipation und Inklusion die einzige Möglichkeit, das ausgrenzende Konstrukt zu durchbrechen.
Das aktivistische Konzept der «crip time» geht noch einen Schritt weiter und greift zwei relevante Aspekte von Normierung auf. Zum einen meint «crip time» ganz simpel die ganze zusätzliche Zeit, die Menschen mit einer Behinderung für Aktivitäten in ihren Leben mehr aufwenden müssen. Und macht damit einmal mehr deutlich, dass Menschen mit einer Behinderung im kapitalistischen System, das getrieben ist von Effizienz, ständiger Mobilität und Verfügbarkeit, nicht «funktionieren». Wobei deutlich wird, dass ein normatives Zeitverständnis künstlich ist und sich durchaus verändern liesse.
«rather than bend disabled bodies and minds to meet the clock, crip time bends the clock to meet disabled bodies and minds.» Alison Kafar
So versteht sich «crip time» auch als Linse, durch welche die Beschaffenheit der Mehrheitsgesellschaft verstanden und die «normale» Welt in Frage gestellt wird. Das Konzept eines Zeitverständnisses aus der Perspektive eines Menschen mit Behinderung wird zum selbstkritischen Blick auf unsere Gesellschaft und entwirft ein inspirierendes Zukunftsbild für eine diverse Gesellschaft – für einmal aus der Sicht der «Aussenstehenden». Womöglich geht es aber weniger um eine binäre Gegenüberstellung dieser beiden Zeitlichkeiten, sondern vielmehr um ein Verständnis ihrer voneinander bedingten «Komplementaritäten», wie es Anne Waldschmidt, Professorin für Disability Studies beschreiben würde.
In künstlerischen Projekten mit Menschen mit einer Behinderung haben wir es also in zweierlei Hinsicht mit einer Abwendung von Normierungszwängen zu tun. Zum einen müssen wir die Vorstellung von «wir inkludieren sie» ablegen. Zugleich müssen wir gewillt sein, unsere Vorstellungen von künstlerischem Arbeiten loszulassen und eine Vielzahl von Ästhetiken, Kunst- und Bildungsverständnissen auszuhalten und diese miteinander in Beziehung zu setzen. Laut Bourdieu sind Stil, Geschmack und Begabung erlernte Fähigkeiten, die innerhalb der Gesellschaft und je nach Milieu ungleich verteilt sind. Und so gilt es immer auch, den ausgrenzenden Spielregeln der Kunst die Stirn zu bieten: den vielen «unsichtbaren, unausgesprochenen, subtilen Formen der Steuerung, der Regulierung und Zensur, die eben qua Stil, Geschmack und als angemessen empfundenem Verhalten durchgesetzt werden.» (Wanda Wieczorek 2015)
«Normen als Normen fallen uns nur auf, wenn wir ihnen nicht entsprechen, wenn wir nicht hineinpassen, ob wir wollen oder nicht.» Carolin Emcke
Und so sollte es Kulturvermittler:innen immer mal wieder passieren, dass sich normierte Vorstellungen unseres Kunstverständnisses bei der inklusiven Arbeit plötzlich als Moment von «beschämt sein über» zeigen. Und wir ertappen uns dabei, wie wir Ideen, Bilder oder Produktionen unserer Mitstreiter.innen als plump, kitschig oder peinlich bewerten. Diese Momente entlarven uns in unseren Norm- und Wertvorstellungen bezüglich «echter Kunst». Und dank der «crip time» wird der Blick klarer und es bleibt uns Zeit, unsere arrivierten Vorstellungen von Kunst einmal mehr über Bord zu werfen.