«Sieben Mal Schirm» – Hörspiele im Fernunterricht
05. Juni 2020
von Barbara Tacchini
Zusammen mit Flawiler Künstler.innen hat die Heilpädagogische Schule Flawil während der Schulschliessung ein Kunstprojekt für alle realisiert: Zu den bekannten Geschichten «Frederick» und «Die grosse Wörterfabrik» entstanden aus rund 200 einzelnen Tonaufnahmen der Kinder und Jugendlichen zwei Hörspiele im Fernunterricht.
Die Schulen sind wegen Corona-Massnahmen geschlossen, die meisten Kinder und Jugendlichen der HPS Flawil sind zu Hause bei ihren Familien. Online-Unterricht ist kein Thema. Aber mit Telefonieren, per Briefpost, ja sogar mit persönlichem Schulmaterialhauslieferdienst halten die Klassenlehrpersonen, unterstützt durch viele Therapeut.innen und Eltern, den Unterricht und die individuelle Förderung aufrecht. Erstmal steht alles Kopf. Doch nach zwei Wochen trifft sich die Kulturgruppe der Schule per zoom. Die Lehrkräfte sind besorgt, super gefordert, gestresst. Manche Schüler.innen vermissen den Schulalltag sehr, freuen sich riesig über Begegnungen zwischen Strasse und Haustüre. Hat Kunst momentan überhaupt noch Platz in den Köpfen? Das Theatergastspiel «Dä Anderscht vo Anderschtwo» samt Workshops ist abgesagt, verschoben auf Herbst, ein gerade gestartetes Schülertheater mit Musikworkshops liegt auf Eis. Irgendwie alle vernetzen wäre gut, meint jemand. Ein Hörspiel, zu dem alle was beitragen, ginge das?
So wird in dieser zoom-Konferenz die «Hörspielfabrik im Fernunterricht» geboren. Entstehen sollen zwei Hörspiele von jeweils ca. 10 Minuten, «Frederick» nach dem Buch von Leo Lionni für die Primarstufe 1, «Die grosse Wörterfabrik» von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo für die Mittel- und Oberstufe. Jedes Kind nimmt einen Satz auf, dazu ein Geräusch, ein Lied oder ein Lieblingswort, zählt soweit es kann, lacht und quietscht. «Wie klingt es, wenn Mäuse schwatzen?» oder «Schalte eine Haushaltmaschine an und nimm sie auf», so steht es etwa in den Arbeitsblättern. Drehbücher werden geschrieben. Reto Knaus von der Tonzelle Flawil gibt wertvolle Tipps und wartet darauf, bis er die rund 200 Tonfiles zu einem grossen Ganzen aufbereiten kann. Die Jazzsängerin Miriam Sutter reagiert komponierend auf das, was da per Sprachnachricht alles eintrudelt, greift da und dort Soundschnipsel auf und spinnt sie weiter zu einer eigenwilligen, von vielen Persönlichkeiten geprägten Collage. So dichtet und komponiert sie zum Beispiel ein fetziges Lied aus der Wörter-Sammlung der «Frederick»-Kinder. Mit einer Jazzbegleitung verwandelt sie neun Varianten des Namens «Marie» zum sehnsüchtigen «Marie-Song». Knatternd und lärmend lässt sie die vielstimmige Wörtermaschine ihre Ware ausspucken. Wer die Geschichte der «Wörterfabrik» kennt, weiss, dass man für besondere Wörter auch mal tief in die Tasche greifen muss: «Fernsehsandwich» soll so eines sein. «Für mich ist es wahnsinnig spannend, ein solches Projekt aus der Distanz mit zu begleiten», freut sich Miriam Sutter. «Die Stimmen und Ideen der Kinder sind wie eine buntes Audio Puzzle, farbenfroh, ideenreich und witzig und sehr berührend». So ist es ein Glück im Unglück, dass sie, zahlreichen Absagen sei Dank, spontan Zeit für das Projekt hat. So auch Soundtüftler Reto Knaus, der sich dem abenteuerlichen Projekt mit voller Energie und auch Respekt widmet: «Anders als sonst habe ich wenig Einfluss auf die Aufnahmequalität», stellt er fest. «Die Kinder und Jugendlichen müssen in Eigenregie oder mit Hilfe der Eltern ihre Aufnahmen machen, und ich bin enorm gespannt, was da auf uns zukommt. Man darf, ja soll sogar später ruhig hören, dass ganz viele Menschen mitgewirkt haben, das versuchen wir nicht einzuebnen, die Individualität der Einzelnen soll Wirkung entfalten.»
Die 13jährige Nuria Hollenstein schickt uns ein Foto ihrer Küchenmaschinen und erzählt am Telefon: «Das Hörspielprojekt finde ich eine coole Idee, sowas habe ich noch nie gemacht. Wenn ich die Hausaufgaben fertig habe, helfe ich gerade viel im Garten, besonders gerne beim Anfeuern des Grills, oder ich gehe in den Wald spazieren. Für das Hörspiel habe ich zusammen mit meiner Mutter die Geräusche von unserem Smoothie Mixer, dem Föhn, der Kaffeemaschine, dem Wecker und der Knetmaschine aufgenommen. In der Knetmaschine haben wir gerade ein Kuchen-Rezept ausprobiert, das wir von der Schule bekommen haben. Am meisten Spass hat mir der Wecker meiner Schwester gemacht, ich habe ihn extra gestellt, um das Piepsen aufzunehmen, das war meine Idee. Wir haben auch den Geschirrspüler aufgenommen, aber der war zu leise. Dann habe ich einen Text eingesprochen von jemandem, der in den Laden geht und Wörter bestellt: «Siebenmal Schirm, zweimal Schule und zwanzigmal Nein». Komisch! Ich freue mich sehr auf das fertige Hörspiel, dann lerne ich die ganze Geschichte der «Wörterfabrik» kennen und höre, was meine Klassenkameraden aufgenommen haben. Sie fehlen mir schon ein bisschen. Manchmal schreiben wir einander Karten. Ich würde gerne noch mehr Hörspiele machen.» «Berwesta, judijudi Berwesta, juhee!», hat jemand aufgenommen. Für Miriam Sutter ist «Berwesta» ein ferner, wundersamer Ort mit Schlaraffenland-Qualitäten. «I streck min Kopf us em Musloch. Eimal in Berwesta wötsch nüme zruck. I und min Fründ dä Seeleu schlecket mit em Papagei en Lolipopp. Dazu trinket mer Murmeliwasser und fahred z’Nacht uf dä Geisterbahn.» Es ist der letzte Tag der Schulschliessung. Die Hörspiele sind fertig. Hören Sie rein!
Hörspiel «Frederick» Hörspiel «Die grosse Wörterfabrik»
Weitere Einblicke sind in der Dokumentation zu finden.