Unterschiede Schreiben – Unruhig bleiben
28. März 2019
von Tom Heinzer
Erzählungen aus meinem Arbeitsalltag – Versuch einer Wahrnehmungsgeschichte der jeweiligen Schulhäuser (Teil 2)
Unruhezonen nehmen wir besonders dann war, wenn sie etwas betreffen, das für uns von höchst persönlicher Bedeutung ist. Entsprechend konditioniert sind unsere Reaktionen, sollte die Unruhe anhalten, nicht zu beruhigen sein: Wir drohen in der Gegenwart zu verzweifeln und erhoffen uns eine von Unruhe befreite Zukunft.
Doch was für Geschichten könnten wir erzählen, würden wir uns daran machen, die Unruhe zu pflegen, uns auf sie einzulassen, den Ton aufzunehmen und sachte zu modulieren, etwas in Empfang zu nehmen und weiterzugeben und dabei eine Geschichte zu erfinden, die vielleicht von dieser !Yeah-Ansteckung handelt und nicht von der Überwindung?
Kunst und kulturelle Betätigung können Orte sein, an welchen behagliches Ankommen, verweilen und daraufhin zufriedenes Weiterziehen möglich ist – eine Wärmelampe. Kunst versteht sich aber besonders im gemeinsamen Erfinden und Entwerfen von Praktiken der Pflege von Unruhe und schafft es darob, Verantwortungen und Zuständigkeiten wachsen zu lassen.
Unruhe ist ansteckend – diese Eigenschaft möchten wir an den Schulen nutzbar machen. Gemeinsam möchten wir Verzweigungen in diese Unruhen einbauen und nicht Hemmungen, wir möchten mit ihr neue Erzählungen entwickeln und sie nicht mit bestehenden Geschichten beruhigen und wir möchten aus der Unruhe ungekannte Verwandtschaften entstehen lassen.
Eine wunderbare Begleitung auf diesem Weg flog mir letzte Woche in die Hand, in Form eines Buches von Donna J. Haraway. Ich bin dieser Autorin immer wieder begegnet, habe jedoch bis anhin – was für ein Versäumnis, was für eine Vorfreude –, nie einen Text gelesen.
Ihr aktuellstes Buch «Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene» von 2016, ist soeben auf deutsch erschienen: «Unruhig bleiben – Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän» (1). Donna Haraway versucht darin, mögliche Anfänge von Gegengeschichten zu der heute so populären Idee des Anthropozäns zu flechten. Die Idee einer Sonderstellung des Menschen und die damit verbundenen «Heldengeschichten» sind extrem zerstörerisch und müssen aufgegeben werden zugunsten einer Vielheit von artenübergreifenden und auf Verantwortung gründenden Beziehungsformen. Forschung aus der Mikrobiologie, Arbeiten aus der Bildenden Kunst oder der Ethnografie und Evolutionslehre liefern ein dichtes Netz, innerhalb dessen Donna Haraway ihre SF-Praxen (Science Fact, Science Fiction, Science Feminism, Speculative Fabulation, So Far, String Figures u.a.) entspinnt und deren Spuren ich als Leser mit grosser Freude gefolgt bin. Das Buch begleitete mich bei der Formulierung dieser Gedanken und ich werde es mit Sicherheit, bei meinen nächsten Schritten, zum Beispiel als Kulturagent, bei mir tragen.
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(1) Donna J. Haraway : Unruhig bleiben - Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Campus Verlag Frankfurt / New York, 2018 (ISBN 978-3-593-50828-3)