Das beste Mutter- oder Vatertagsgeschenk
14. avril 2020
par Barbara Tacchini
Mehr Zeit und Raum lassen für künstlerische Prozesse, das geht möglicherweise auf Kosten eines fertigen Produkts. Aber wer sagt denn, wann Kunst «fertig» ist? Und was, wenn sie nicht «fertig» wird? Gesprächs- und Gedankenfetzen aus einer Kulturgruppensitzung im Schulhaus Wiesenau.
«Ach wie schön wäre es, sich mit den Kindern und Jugendlichen einfach mal auf einen künstlerischen Prozess einlassen zu können, der nicht gezwungenermassen zu einem Ergebnis führen muss, also ohne den Druck einer Aufführung, einer Ausstellung, einer öffentlichen Präsentation»: Ich höre den Stein, der der Lehrkraft schon nur beim Äussern dieses Herzenswunsches vom Herzen fällt, förmlich rumpeln. Und sie ist nicht die Einzige, die vom Druck des Leistungsnachweises spricht, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, Leistungen zu bewerten, die nicht in einem griffigen Produkt ihre präsentable Form finden, wenn ich meinen Finger einmal mehr auf die oft marginale künstlerische Partizipation der Schüler.innen in Schulkunstprojekten halte. Und so finden auch im Zeitalter des Lehrplan 21 noch immer gebrauchsfertige Turbo-Formate für Schulmusicals samt Inszenierung, Fertig-Anleitungen für Klassensätze von Mal- und Bastelarbeiten oder Singalong-Files dankbare Abnehmer.innen. Mit klarem Ziel und Zeitplan vor Augen kann auch im Kunstbereich höchstens der Schüler scheitern, der sich nicht eintakten lässt oder die eingeforderte Technik nicht beherrscht. Und so wird Kunst «verschult» – das ist das Wort, das mir dazu einfällt – und hat wie so viele andere Dinge in der (Kinder)-Welt viel mehr mit der Erfüllung von Schablonen und Erwachsenenwünschen gemein als mit eigenem künstlerischem Tun. Denn zu Letzterem gehören immer auch das Suchen, Sammeln und Forschen, das Sortieren, Reflektieren und nicht zuletzt auch das Überwinden von allerlei Hindernissen, ja sogar das Scheitern. Den Herzenswunsch der Lehrkräfte, er liesse sich im Projekt «Kulturagent.innen für kreative Schulen» doch verwirklichen: Einfach mal unterwegs sein zu dürfen und noch nicht zu wissen, wohin. Vielleicht entstehen einfach nur Skizzen. Oder Filmschnipsel. Oder eine flüchtige Klangwelt, die für den Augenblick bestimmt ist. Ob Motivation und Schaffensdrang der Kinder ohne Zeitdruck und ohne im Voraus festgelegtes Ziel gemindert würden, wir würden es erleben. Vielleicht würden die Kinder ganz plötzlich und vehement eine Aufführung oder Ausstellung einfordern. Oder nochmals von vorne anfangen wollen. Am Ende etwas mitzunehmen, den Eltern etwas vorzuführen, ich erinnere mich, war zwar schon immer wichtig, doch das Vergnügen am Erfinden und Bauen überwog alles. «Doch findet ein Kunstwerk nicht erst im Interpretiert werden zu sich selbst?» «Also doch Publikum und Produkt?» «Dann erfinden wir eben neue Formate jenseits der fertigen Ausstellung oder der aufs I-Pünktchen funktionierenden Theateraufführung.» «Können wir denn», so fragen sich die Lehrkräfte, «etwas in die Waagschale werfen, um mehr Zeit zu gewinnen für einen künstlerischen Prozess, für Begegnungen der Kinder mit Künstlerinnen und Künstlern?» «Wie wärs mit dem Muttertagsgeschenk? Wir könnten mal nachfragen, ob die Eltern das wirklich brauchen? Denn müssten wir ein Produkt weniger herstellen, könnten wir die Zeit anders verwenden». In ihrem Aufsatz «Ästhetische Forschung – Anmerkungen zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung» beschreibt Helga Kämpf-Jansen, wie eine kreativ-partizipative Kunst-Werkstatt in Schulkontext für Kinder und Jugendliche funktionieren könnte und stellt fest: «Wenn Kinder, Jugendliche und Studierende in ihrer gesamten Lern-Zeit mit Prozessen ästhetischer Bildung konfrontiert würden, dann liesse sich sicher sagen, dass die kunstpädagogischen Zielvorstellungen von Wahrnehmungssensibilisierung, Kreativität, Flexibilität, Teamfähigkeit, Frustrationstoleranz, Aufmerksamkeit, Intensität, Sinnsuche, Sinngebung u.a.m. als Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung ein grosses Stück näher gerückt sind.» Liebe Eltern, ich rate euch, sofort zu unterschreiben: Statt Buchzeichen, Kerzenständer und Bilderrahmen aus bunten Steinchen zum Mutter- oder Vatertag – kreative, frustrationstolerante, aufmerksame und teamfähige Kinder!