Mythos Kreativität?!
25. September 2020
von Sascha Willenbacher
In unserer letzten Reflexionswerkstatt, Mitte September, hat sich das Team der Kulturagent.innen mit dem Begriff «Kreativität» auseinandergesetzt. Schliesslich führt ihn das Projekt im Namen: Kulturagent.innen für kreative Schulen ... .
Im Vorfeld unserer Werkstatt haben alle Kulturagent.innen mit Akteur.innen an ihren Schulen gesprochen und nach deren Verständnis von Kreativität gefragt. Und auch danach, was sie sich unter einer kreativen Schule vorstellen. Ohne den Anspruch auf Repräsentativität wollten wir am gesammelten Material diskutieren, ob und welche Mythen vom Künstler (als männliches Konstrukt) und dessen Kreativität darin anklingen, welche sozialen Ein- und Ausschlüsse möglicherweise damit einhergehen und mit welchen Vor-Verständnissen wir selbst auf dieses Material schauen. Kea Wienand war hierfür als externe Expertin von der Universität Oldenburg zu uns gereist, um anhand eines Bildervortrags die Entstehung gesellschaftlicher Vorstellungen und Projektionen vom Künstler seit dem Mittelalter zu skizzieren – Vorstellungen und Projektionen wie sie auch heute noch bspw. in Biopics (Filmbiografien) fortgeschrieben werden. Zu den besonders dominanten Mythen zählen Autonomie, Originalität, Alterität und männlich konnotierte Produktivität respektive Schaffenskraft, aber auch die Vorstellung von natürlicher oder angeborener Begabung sowie die Erzählungen von einem bestimmten Erweckungsmoment.
Was hat das mit den Schulen im Projekt Kulturagent.innen zu tun?
Von besonderem Interesse scheint mir beispielsweise zu sein, wie und unter welchen ideologischen Vorzeichen das Kreativsein und das Ideal der Kreativität als gesellschaftlicher Anspruch in einer Schule präsent ist. So beschreibt eine Lehrperson im Interview: «Ich glaube, dass Kreativität einen wichtigen Stellenwert hat, aber es besteht auch die Angst, Zeit zu verlieren, wenn man ihr Raum gibt oder dass die Struktur verloren geht. [...] Ich glaube, das Bewusstsein dafür ist da, aber das Umsetzen macht Angst oder macht Sorge, oder man weiss nicht wie. Und darum denke ich, man ist sich bewusst, dass Kreativität wichtig oder eine gute Ressource wäre, aber ich habe das Gefühl, dass viele Lehrpersonen oder viele Schulen nicht wissen, wie man das konkret umsetzen kann. Und dann kommt man in Konflikt mit dem, was man ganz klar vor sich sieht, was man erreichen sollte.»
Aus der zitierten Passage spricht für mich das Wissen darum, dass Kreativität etwas ist, das von Schulen gefördert werden sollte. Gleichzeitig besteht eine Unsicherheit nicht nur hinsichtlich des Vorgehens, sondern auch der Dynamiken, die kreative, ergebnisoffene Prozesse mit sich bringen können: Was ist, wenn alles viel länger dauert als geplant, weil beispielsweise die Ideen und Handlungsschritte der Schüler.innen in unvorhersehbare Richtungen laufen? Als Lehrperson hat man das ganze Schuljahr im Blick, den Stoff und dessen Verteilung auf die einzelnen Monate, die Zensuren und die Zeugnisse. Da Lehrpersonen von verschiedenen Seiten für die Leistungen ihrer Schüler.innen mit in die Verantwortung genommen werden, besteht ihrerseits möglicherweise ein Bedürfnis, das Lernen unter Kontrolle halten zu wollen. Die Forderung, Raum für kreatives Handeln im Unterricht zu schaffen, stellt sie dann vor ein Dilemma und kann geradezu paradox wirken.
Das Unterrichten als kreative Tätigkeit
In meiner Auslegung der Interviewpassage erscheint das Kreative oder das kreative Tun tendenziell als ein Kontrapunkt oder als Gegenbild zu einem eng(er) geführten Unterrichtsgeschehen, das bestimmte Inhalte vermitteln will oder bestimmte Dinge einüben möchte (z.B. die korrekte Anwendung von englischen Vokabeln). Und tatsächlich nennen einige der Befragten sehr häufig Malen, Zeichnen, Basteln, Tanzen oder Musik als Beispiele für Kreativität. Demgegenüber fanden die kreativen Aspekte des Unterrichtens auch von Seiten der befragten Lehrpersonen keine Erwähnung, was doch durchaus auf der Hand läge, wenn man bspw. an die Gestaltung von thematischen Unterrichtseinstiegen denkt oder daran, dass Lehrpersonen Anlässe schaffen, um mit Schüler.innen in spannende Diskussionen zu kommen oder über Wege nachdenken, wie sie die Leistungen ihrer Schüler.innen auch formativ beurteilen können. Gar nicht zu reden von den Ideen, die es braucht, um binnendifferenziert zu arbeiten. Klar, es spielt hier eine Rolle, dass die Interviewten von einer.m Kulturagent.in befragt wurden und sie dadurch das Kurz-Interview entsprechend einordneten. Aber erklärt es das alleine oder ist es nicht auch so, dass Vorstellungen von Kreativität letztlich doch und immer noch sehr eng mit den Künsten und mit besonderer, individueller Veranlagung einhergehen?
Kreativität als Eigenschaft sozialer Strukturen
Ausgeblendet bleibt in solchen Vorstellungen das soziale Moment von Kreativität, also dass Neues aus bereits Vorhandenem entsteht, sich auf Bestehendes bezieht, aus dem Teilen von Wissen und Erfahrungen erwächst oder aus der Begegnung mit dem Anderen, das das Eigene zu irritieren vermag: «Kreativität meint ein Aufblitzen des Anderen im Eigenen.» So formuliert es der Medienpädagoge Stephan Münte-Goussar in seiner Streitschrift «Norm der Abweichung. Über Kreativität» und schlägt vor, dass man Kreativität «vom Individuum, vom individuellen Selbst, ablöst und nicht weiter als ein Attribut des – bei aller geforderten Flexibilität und Kopflosigkeit – dennoch selbstidentischen Selbst denkt. Kreativ wäre damit nicht länger anthropologisches Vermögen, individuelle Kompetenz, Potenzial und Effekt des Selbst. Sie wäre vielmehr eine Struktureigenschaft. Sie wäre die Diskontinuität und die Möglichkeit einer Neukombination innerhalb eines – bereits bestehenden – Zusammenhangs. Man sollte die Kreativität gewissermaßen Gott zurückgeben.»
Mit der ironisierenden Wendung im letzten Satz bezieht sich Münte-Goussar auf die Phase in der europäischen Geschichte, in der sich ein neues Bewusstsein vom Menschsein im Verhältnis zur Welt etablierte. Während bis zum 16. Jahrhundert das Selbstverständnis dahingehend geprägt war, sich in einer von Gott geschaffenen Ordnung zu bewegen, um den darin vorhergesehenen Platz zu suchen, sieht die Subjektphilosophie u.a. mit Kant zunehmend den Menschen in einer schöpferischen, gestaltenden Position. Als bildhaftes Zeugnis hierfür sehe ich das berühmte Deckenfresko «Die Erschaffung Adams» von Michelangelo: Gott erweckt Adam zum Leben, indem er dessen Zeigefinger mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand fast berührt. Dieser Akt der creatio ex nihilo – die Erschaffung aus dem Nichts – symbolisiert sich in der Fast-Berührung als einer transzendenten Verbindung zu Gott, also zu einer äusseren Quelle allen Lebens und dessen Inspiration durch göttlichen Geist. Mit Georgio Vasari, der Michelangelos Fresko seinen Titel gab, beginnt die Überblendung von Gott und Künstler als genialische Schöpfer. So schreibt er über das Fresko: «Eine Figur, die in ihrer Schönheit, ihrer Haltung und ihren Umrissen so erscheint, als sei sie vom ersten und höchsten Schöpfer selbst erschaffen worden, nicht aber durch den Pinsel und nach der Zeichnung eines sterblichen Menschen.»
In der Folge Vasaris, der mit seinen Künstlerbiografien als Begründer der modernen Kunstgeschichte gilt, verdichtet sich der Mythos vom genialischen Künstler, der autonom – also aus sich selbst heraus – erschaffen, kreieren kann und dazu keinen anderen braucht. Irgendwann auch nicht mehr Gott. Wenn Münte-Goussar die Kreativität nun «gewissermassen Gott zurückgeben» will, dann meint er damit nach meinem Verständnis eine De-zentrierung: Kreativität wird nicht im «Inneren» des Menschen verortet, sondern als etwas, das aus sozialen Strukturen hervorgeht – bspw. in Form der Neukombination von Bestehendem, in der Fähigkeit zur Rekontextualisierung beim Sampeln oder im Spiel mit der Abweichung im Akt der aneignenden Wiederholung. Gute Beispiele für das, was damit gemeint sein könnte, sind Fotos, die während des Lockdowns im Frühjahr 2020 entstanden sind. So hatte das Getty Museum (Los Angeles, USA) dazu eingeladen, mit drei Haushaltsgegenständen klassische Gemälde nachzustellen, zu fotografieren und das Bild mit ihnen zu teilen. Herausgekommen sind verblüffend genaue und ungemein witzige Neukreationen und Interpretationen. Die Aktion war überaus erfolgreich, da sich generationenübergreifend viele Menschen daran beteiligten. Einige der Bilder finden Sie hier neben dem Text. Die beiden letzten Bilder (zu einem Doppelbild zusammengefügt) stammen allerdings aus einem anderen Kontext. Es handelt sich um das Fresko «Die Erschaffung Adams» von Michelangelo Buonarroti von 1512 und dessen Re-Kreation durch Harmonia Rosales von 2017, mit der sie dominante, männlich-weisse Narrative irritiert. Ihre Arbeit hat bereits viele Reaktionen und Diskussionen hervorgerufen.