«Kunst–Macht–Bildung», Tagung an der Zürcher Hochschule der Künste – ein persönliches Seismogramm
07. novembre 2019
par Barbara Tacchini
In der Reihe «Die Künste in der Bildung» veranstaltete die Zürcher Hochschule der Künste am 8./9.11.2019 eine Tagung, welche das Spannungsfeld von Kunst, Macht und Bildung mit Vorträgen, Debatten und künstlerischen Interventionen in den Fokus nahm.
Zwei Marionetten zappeln an unsichtbaren Fäden, schauen vorwurfsvoll fragend, ängstlich nach oben zu ihren Meistern – dann ein Ruck, und sie sind frei. Doch keiner läuft weg. Vielmehr kletten sie sich aneinander, suchen Halt, verfangen sich, tanzen – synchron! – und schwupps, haben sie ihre eigenen Fäden wieder eingefangen. Erleichterung spricht aus ihren Blicken und Körpern.
Es ist ein Ausschnitt aus dem abendfüllenden Tanzstück «JE SUIS MARIONETTE», welches 2019 vom Jugendclub WILD_LIFE 171 am Tanzhaus Zürich Tanzhaus Zürich entwickelt wurde. «Können wir verbunden sein, ohne abhängig zu werden?», fragten sich die Jugendlichen. Offenbar nicht, entnehme ich diesem Fragment, und hätte gerne das ganze Tanzstück gesehen.
Es ist eine von mehreren künstlerischen Interventionen, welche die Tagung an der Zürcher Hochschule der Künste bereichern und das Thema auf ihre Weise beleuchten: «Wer bewegt wen im komplexen Spannungsfeld von Kunst (mit ihrer Idee der Unabhängigkeit), von Kunstpädagogischen Institutionen, die das Knowhow in Lehre, Forschung und Methodik bereitstellen, und bildungspolitisch motivierter Kunstförderung, die gleichzeitig auf aktuelle Tendenzen reagiert und diese in ihrem Selektionsprozess wiederum steuert? Entpuppt sich die Unabhängigkeit der Kunst als Mythos? Lehren die Kunstpädagogischen Institutionen eigentlich Unabhängigkeit? Sind die Fördergremien die inoffiziellen Akteure der Kulturpolitik?
In meinem Kopf schwirrt es, einmal mehr erlebte ich in diesen anderthalb Tagen die kribbelnde Erwartung, mit bahnbrechenden Erkenntnissen beschenkt zu werden, oft Gedachtes ganz neu denken zu können. Die Aufregung über Speed Dates mit unzähligen spannenden Menschen, Gesprächsfetzen, angedacht unfertig. Und dann die allmähliche Erschöpfung, das Gefühl der «Overdose», des trotz Dauerkommunikation aneinander Vorbeiredens. Was bleibt?
Drei Studierende protokollieren mit ihren Laptops, deren Bildschirme an die Wand projiziert werden, eine Podiumsdiskussion, schnappen Wortfetzen auf, löschen Wörter, schieben sie anderswo dazwischen – Gedanken(t)räume – Nebelschwaden in Bewegung: ein Gedicht? Interessant, aber verhilft nicht zu Klarheit. Definitiv beunruhigend dann Jürg Kienberger, der als sogenannter «singender Seismograph» die Tagung beschliesst. Der Theatermusiker hat den ganzen Samstag unter den Vortragenden und Debattierenden verbracht und reagiert nun darauf. Er nimmt – pantomimisch – einen Stein vom Boden auf, wirft ihn über die Wasseroberfläche. Der Stein hüpft: Sieben Mal, zählt Jürg. Nochmals: Der Stein hüpft und hüpft und hüpft, müsste längst ein Loch in die Wand der Bühne in der Zürcher Hochschule der Künste geschlagen und die Gessnerallee durchhüpft haben. Siebenunddreissig! Mit einem schrill-bunten Kinder-Plastik-Mikro präpariert Kienberger das Klavier und intoniert «We don’t need no education», ein kleiner Jodel mündet in ein Hackbrettstück, vom Tribünenchor mit einem vierstimmig gesummten Akkord unterlegt. Und als wir uns im alpinen Vielklang trotz Dissonanzen so richtig geborgen fühlen, zitiert Kienberger François Rabelais, «Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entzündet werden», und meint leichthin: «Es gibt danach keine Fragen!» Nur scheinbar sanft lässt uns der einzigartige Komiker und Musikspieler auf dem Boden der Realität landen.
Kritik sei in der heutigen Zeit am wirksamsten, wenn sie im Gewand der Hyperaffirmität (Kritik, die ihren Gegenstand unironisch positiv darstellt, dies aber negativ meint) daher komme, dies hatte der Komponist und Theoretiker Patrick Frank eingangs der Tagung behauptet. Würde er Kienberger nun zur «hyperaffirmative Avantgarde» zählen? Eher wohl zu den postavantgardistischen «Störsängern»? Wie auch immer. Patrick Franks Frage bleibt hängen, widerborstig kitzelnd: «Können Sie sich das Prinzip ‹Hyperaffirmation› in Ihrem Tätigkeitsbereich vorstellen?» (siehe den Text von Patrick Frank). Ich diskutierte sie an einem Stehtisch mit Dozierenden der ZHDK. Kurz schwebte mir das Bild einer 80köpfigen Lehrergruppe vor, die in einer Fortbildung zum Thema künstlerisch-kreative Partizipation einen Nachmittag lang vorgezeichnete Sterne aus Halbkartonbögen ausschneiden. Ich wische es weg. Auch die anderen sind skeptisch: Das sorgfältige Auseinandernehmen, das was konstruktive Kritik doch ausmacht, ginge verloren. Das Vertrauen zwischen Lehrenden und Lernenden würde angekratzt, und wer nicht dekodieren kann lernt nichts. Kunst hat es da offenbar leichter. Da mögen John Cages «4.33» oder die von Patrick Frank erwähnte GEMA-Aktion «product placement» (2008) des Komponisten Johannes Kreidler, die der GEMA lastwagenweise Rechts-Anträge zur Bearbeitung bescherte, die Gemüter erhitzen und nachhaltig Wirkung zeitigen, doch ist das Verhältnis zwischen Künstler.in und Rezipient.in dann eben doch nochmals ein anderes als zwischen Meister.in und Schüler.in. Aber scheitert nicht allzu oft auch der Dialog zwischen Künstler.in und Publikum an Verschlüsselungen, die den Rezipienten nicht zum individuell-kreativen Interpretieren motivieren, sondern vielmehr mit dem ohnmächtigen Gefühl zurücklassen, ein Kunstwerk «nicht zu verstehen»?
«‹Es fragt sich nur›, sagte Alice zu Humpty Dumpty, ‹ob man Wörter einfach etwas anderes heissen lassen kann›. ‹Es fragt sich nur›, sagte Humpty Dumpty, ‹wer der Stärkere ist, weiter nichts›». Hatte Humpty Dumpty in Lewis Carrolls «Alice hinter den Spiegeln» am Ende Recht? Erst seit knapp fünf Wochen ist Prof. Dr. Johan Fredrik Hartle Rektor der Akademie der bildenden Künste in Wien. Das Tagungsthema hat für ihn durch die Berufung eine brennende Aktualität erhalten. Er denkt – hier etwas verkürzend gesagt – über Taktiken nach, wie er den Etat der Akademie vor den politischen Instanzen rechtfertigen kann und zeigt auf, wie höhere Autonomie immer auch neue Kompetenzen ausserhalb von Kernaufgaben fordert, was wiederum auf letztere einen modellierenden Effekt hat. «Das Befolgen von Regeln beruht auch auf impliziten Konsensen», so Hartle. «Regeln werden insofern auch in der Handlung derer aktualisiert, die sie interpretieren.»
Irrt Humpty Dumpty? Aber was, wenn die Legislative bereits einberechnet hat, dass wir uns die Köpfe über mögliche Spielräume und Lücken zerbrechen werden? Und die Fäden für die Marionetten gerade so lang gelassen hat, dass es sich wie Freiheit anfühlt? Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, so erklärt ihr Direktor Philippe Bischof, ändere gerade ihre Förderkriterien vom Einzelprojekt hin zu Prozess- und Laufbahnförderungen. Beruhigend? Nun habe man sich gerade ans kreative Hineinkneten der Konzepte in die Projektanträgen gewöhnt, meine eine Professorin. Wichtiges Förderkriterium sei aber nach wie vor die gesellschaftliche Dringlichkeit des Projekts! Doch von welchen Künsten sprechen wir, wenn wir von Wirkung in der Gesellschaft sprechen? Und wer entscheidet, was für die Gesellschaft und den/die einzelne/n Künstler.in dringlich ist? «Neue ökonomische Modelle für freie Künstler.innen» postuliert die Künstlerin und Unternehmerin Miriam Walther Kohn, und reagiert etwas gereizt auf die Frage, wie es ihr denn nun ginge, wo sie vom Künstlerprekariat in einen sichereren Hafen migriert sei. Künstler.innen sind für die «Inversion des Prekären» zuständig, ihre These. Aber müssen sie dafür ins Prekariat?
«Uns geht es darum, dass die Teilnehmenden die Spielräume im Bildungsbereich erkennen. Wo es Regeln gibt, gibt es immer auch Raum für Interpretation», so formulierte Liliana Heimberg, Professorin für Theaterpädagogik an der Zürcher Hochschule der Künste, das Tagungsziel. Vom «Langen Sofa» aus, wo die vielen Impulse der Tischgespräche sortiert werden, weitergedacht: Es sei eine Frage der Bildung, wie wir mit Spielregeln umgehen können, und gerade die Künste bilden Kompetenzen zum kreativen Aktualisieren von Regeln. Diesen Gedanken will ich auf Erdbebensicherheit überprüfen! Der aktuelle Weltrekord im Schiefern liegt bei 88, lese ich in einem Artikel der Aargauer Zeitung . «Der gyroskopische Effekt ist entscheidend», meint der Physiker Bocquet. «Eine Eigenrotation stabilisiert den Stein im Flug und entscheidet mit darüber, wie der Stein von der Wasseroberfläche wieder abspringt.» Man müsse dem Stein beim Werfen lediglich einen leichten «Dreh» mit dem Finger mitgeben, damit er während des Flugs um die eigene Achse rotieren kann. Schiefern durch eine Betonmauer hindurch aber, das kann nur Jürg Kienberger, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Noch Fragen?
Weitere Informationen zur Tagung und Veranstaltungsreihe finden sie hier.