Das Wesen der Dinge
07. März 2022
von Bettina Eberhard
Die Aneignung von Wissen über das «Wesen der Dinge» als Erforschung der Welt durch das Spiel.
Lernen bedeutet, sich der Welt nähern und sie zu begreifen, zu ertasten, zu erschnuppern, zu spüren oder zu schmecken. Im gemeinsamen Workshop mit Rahel Wogensinger war es uns ein zentrales Anliegen, Welterschliessung und -gestaltung im Austausch mit Objekten aus dem schulischen Umfeld zu ermöglichen. Das sinnliche Erleben und Finden von Spielfiguren aus Alltagsgegenständen sowie Theatermomenten hat den grösstmöglichen Raum bekommen und ein Feld für Experimente eröffnet. Welterschliessung mit allen Sinnen!
Ausgehend von dem Gedanken, dass Kinder das Konzept der Entzauberung der Welt noch nicht verinnerlicht haben – Objekte also noch nicht getrennt voneinander wahrnehmen und nach ihrer Nützlichkeit einordnen – waren die Kinder angeleitet, Objekte aus ihrem Umfeld zu wählen und sie durch basale Eingriffe zu animieren. Ein Vorgang, der in einem Rollenspiel automatisch aus der Situation heraus entsteht. Aus dem Zusammenspiel und von erfundenen Narrationen beflügelt, beginnt die Legofigur gewissermassen automatisch zu agieren. Durch die Vorgabe des Spielzeugs wird der Rahmen für die Aktion aber bereits stark eingeschränkt. Oftmals steht eine Nachahmung im Vordergrund. Die Welt, die den Dingen eine Ordnung des Nutzens aufzwingt, sollte bewusst umsegelt werden. Es ging darum, dem Gedanken nachzuspüren, dass Objekte eine fast magisch anmutende Beziehung untereinander haben können und ihnen ein natürliches Geheimnis innewohnt. Jedes enthüllte Geheimnis birgt ein weiteres, ein Versprechen auf eine weitere Entdeckung, die es zu machen gilt.
Weil Kinder sich oftmals noch fliessend zwischen erträumten und materiellen Welten bewegen, habe ich mir ausgemalt, dass das Einhauchen von Leben auch mit Alltagsgegenständen aus ihrem schulischen Umfeld leicht funktioniert. Das Anfügen von Augen sind sicher die einfachste Art, Objekte zum Leben zu erwecken. In dem Workshop war jedoch interessant zu beobachten, dass die Mehrzahl der Kinder keine tiefere Beziehung zu einem harten Gegenstand aufbaut, auch wenn er Augen hat. Je künstlicher und härter das Material, umso mehr blieb ein Objekt in der Welt der Gebrauchsgegenstände verhaftet. Da täuschen auch Augen und imitierte Stimmen nicht darüber hinweg. Der persönliche Bezug fehlt. Dieser könnte wahrscheinlich durch eine Narration im Spiel aufgebaut werden. Fehlt aber auch diese, ist die Aufforderung, das Objekt zu animieren, überfordernd und die Spieler.in sucht Zuflucht in einer aggressiven Geste. Die Plastikeimer mit Augen werden zu Angreifer.innen, beäugte Plastikgabeln wollen nichts weiter als sich prügeln. Einen vielseitigeren Umgang zeigten die Kinder in der Handhabung von weichen Materialien. Gegenstände wie ein Schal, eine Jacke oder ein Tuch mit Augen wurden sofort von den Kindern beseelt. Es fiel ihnen leicht, sie zu bewegen und in ein Zwiegespräch zu treten. Sie wurden zu echten Wesen. Ich durfte Lilly kennenlernen, eine kleine, schüchterne Figur aus einem Webteppich, die sich schutzbedürftig an den Jungen schmiegte, der sie entdeckt hat.
Im Spiel mit Objekten aus starrem Plastik kopierten die Kinder jedoch gesellschaftlich vorgegebene Rollen und Gesten, sie blieben im übertragenen Sinne in der starren «Ordnung der Dinge» verhaftet. Sobald es weich und diffuser wurde, eröffneten die aufgeklebten Augen einen neuen Zugang. Objekte und Materialien wurden zu vielschichtigen Wesen mit unterschiedlichen Charakteren. Die Kinder veräusserten ihre innere Welt. Je weniger Vorgaben sie hatten, umso persönlicher wurde das im Material entdeckte Wesen. Die Kinder erlebten sich als poetische Forscher.innen, die spielerisch die Welt mit allen Sinnen entdeckten. Die Verbindung innerer Erfahrungen und der Wahrnehmungswelt der Kinder mit der äusseren materialistischen Welt war in beide Richtungen fliessend. So waren die gefundenen, belebten Gegenstände frei von Klischees und Stereotypen, die uns doch in Erzählungen und Bilderbüchern immer wieder begegnen.