Rechter Winkel?
20. mai 2021
par Barbara Tacchini
SCHILF = Schulinterne Weiterbildung – zum Spinnerei-Projekt an der Schule Wiesenau
«Wie fühlt sich eigentlich ein rechter Winkel?» Unwillkürlich straffen sich die Rücken der rund zwanzig Lehrpersonen der Wiesenau, Arme schiessen in die Höhe, manche können sich ein Lachen nicht verkneifen. Am Klavier greift Klangwart Roman Rutishauser vehement in die Tasten, der LehrerInnenchor kontert entschieden und wohlklingend: «Alle Winkel sind auf hundertachtzig!». Mit einer humoristischen Eigenkomposition über ein grosses mathematisches Thema, der «Salsa Pytagoras», eröffnet Rutishauser die schulinterne Weiterbildung, kurz SCHILF genannt. «Ungestört von den SchülerInnen», so sagt der St. Galler Künstler mit einem Augenzwinkern, sollen die Lehrpersonen heute selbst in künstlerisch-ästhetische Räume eintauchen. Seit fünf Monaten nämlich begleiten sie ihre SchülerInnen im Kunstprojekt «Spinnerei zu St. Margrethen», wenn diese unter der Leitung von Rutishauser und weiteren KünstlerInnen jeweils für einen Vormittag pro Monat die Wiesenau verwandeln, sei es mit Ausstellungen, Tanz, Song- und Filmschnipseln.
Bereits ist eine beträchtliche Ideensammlung für das Eröffnungsfest des Wiesenau-Erweiterungsbaus im September 2021 entstanden. Weiterkommt, was scheinbar Festgefahrenes hinterfragt und neue Sichten gewährt. So präsentiert sich zum Beispiel an diesem Nachmittag das Treppenhaus der Wiesenau. Tausendmal vorbeigerannt. Doch während von LehrerInnenhänden geworfen tausend Ping-Pong-Bälle den Lichtschacht hinunterpurzeln – «eine Klangdusche» oder «Schnee im April»? – nehmen wir plötzlich die Schönheit der Architektur wahr. Fast wähnt man sich in einem Museum, denn im Lichtschacht baumelt auch ein Werk aus unzähligen Wollfäden, das die SchülerInnen neulich geschaffen haben.
Passend zur Baustelle packt Rutishauser nun Abdeckfolie aus. Die Aufgabe, sie gemeinsam aufzufalten, ist kinderleicht. Doch was passiert? Alle halten sich an der Folie fest, lassen jauchzend Gegenstände in die Höhe springen, bis das Folien-Trampolin reisst. «Nochmals», fordert Rutishauser. Diesmal soll nicht gesprochen werden: «Die Konzentration auf das Freilassen und die Hingabe an das Material ausrichten. Da plötzlich zeigen sich antarktische Landschaften, ein Wasserfall ergiesst sich vom Luftschacht herab. Ähnliche Sinnes-Erfahrungen schenken auch die Performance-Aufgaben mit Fäden, Spiegeln und Strumpfkostümen. «Erstaunlich, was ich alles beobachten konnte und wie viele Ideen ich hatte, wenn nicht gesprochen wurde und alle konzentriert ihr Material bearbeiteten», erzählt eine Lehrerin. «Es ist, als ob alle PerformerInnen einem geheimen Plan folgten. Alles ist in Verwandlung. Das macht etwas her!»
Erste konkrete Übersichtspläne für die Bespielung der Wiesenau durch die rund 270 Kindergärtler und Primarschülerinnen am Einweihungsfest des Neubaus werden an diesem SCHILF vorgestellt und diskutiert. Sie sind wie das ganze Kunstprojekt der «Spinnerei» zum Glück wandelbar, und somit «coronatauglich». Denn noch können wir nicht wissen, welches Format eines Einweihungsfests im September möglich sein wird. Nochmals singen wir die «Salsa Pythagoras» zum Abschluss dieses SCHILF, und da alle schon etwas erschöpft sind vom vielen Performen, geniessen sie eine Stelle aus dem Lied besonders: Da räkelt sich in einem laaangen Ton faul die Hypotenuse, das ist die lange Dreiecks-Seite gegenüber dem «rechten Winkel», bis sie harsch aufgefordert wird: «Schau nach vorn!» Fröhlich blitzende Augen über den Masken: «Ich stelle fest, dass wir gerne zusammen singen», sagt Schulleiter Michel Bawidamann. Eine wunderbare Voraussetzung für die «Kulturschule Wiesenau».